No Bra

Postkarte 10 (New York City)
Als ich neulich den Begriff „Dysphorie“ gegoogelt habe, war einer der ersten Einträge, der in meinem Browser aufgepoppt ist, ein Telefonat, das Wolfgang Tillmans und Susanne Oberbeck im November 2019 zwischen Berlin und New York geführt haben. Der Grund für den Austausch der beiden war Oberbecks unter ihrem Künstlernamen NO BRA veröffentlichtes Album „Love & Power“. Tillmans, der sie schon seit ihrer gemeinsamen Londoner Zeit vor fast 20 Jahren kennt, hatte sie für das Quasi-Cover so fotografiert, wie sie auch auftritt: Mit freiem Oberkörper. Ich schreibe „Quasi-Cover“, weil das Foto nicht die Vorderseite eines Tonträgers ziert. Und es auch nicht mit einem komprimierten Audio-Folder verschickt werden soll. Es fungiert als Thumbnail für Streamingdienste. Die Immaterialität des „Produkts“ steht im krassen Gegensatz zur absoluten Präsenz von NO BRAs Auftritten. Sie braucht die Bühne, um mit ihrer rohen elektronischen Musik, den glasklaren Texten und dem tatsächlichen Körper die Voreingenommenheit der Gesellschaft beim Zuweisen von Geschlechterrollen zu zeigen. Der Stream fungiert dabei nur als Visitenkarte für den optionalen Raum, den man mit ihr bald wieder teilen sollte und muss. Ich denke, du weißt was ich meine.